»MANCHMAL GENÜGT ES AUCH, DIE BASICS ZU BEHERRSCHEN«

Jonas Grellmann gehört zu den Junginhabern, die mit ihrer Betriebsgründung alles andere als Glück hatten. Mitte 2019 an den Start gegangen, erwischte ihn die Corona-Pandemie mit voller Breitseite. Und dennoch geht es ihm heute besser als je zuvor. Das muss Gründe haben. Ein Nachmittag in Worpswede bei Hörgeräte Grellmann.

Sind wir doch mal ehrlich. Sich heute selbstständig zu machen, ist bei weitem nicht mehr so einfach wie noch vor zehn Jahren. Stichpunkte wie Zinsanstieg, Inflation, Fachkräftemangel oder leere öffentliche Kassen dürften genügen, um das zu verdeutlichen. Umso mehr staunt man über eine Zahl: Trotz vieler verkaufter Betriebe gab es in der Branche 2022 16 Unternehmungen mehr als im Jahr zuvor. Auch wenn man in diesem Kontext sehen muss, dass die Anzahl der Betriebsstätten in Deutschland seit Jahren ebenfalls kontinuierlich steigt, bedeutet das zumindest, dass genauso viele Menschen das Risiko auf sich nehmen, auf die eigene Kappe zu wirtschaften wie vor ein paar Jahren. Bemerkenswert in Zeiten von Großfilialisten, Online-Angeboten, Verkaufswellen und einem kriselnden Gesundheitssystem. Doch ergibt es überhaupt noch Sinn, sich heute als kleiner Handwerksbetrieb weiterhin in einen stationär geführten Wettbewerb zu begeben?

»Natürlich«, meint Jonas Grellmann, als ich ihn in seinem Geschäft in Worpswede darauf anspreche. »So paradox das klingt, auch ich habe die Dinge lange kritisch betrachtet. Doch mittleiweile sehe ich das ganz anders. Oft reichen schon die Basics, um erfolgreich zu handeln. Denn auch die muss man erst einmal beherrschen. Die Kunden kommen dann schon von selbst.«

Begleitet hat mich an diesem Tag ein guter, gemeinsamer Bekannter. Deniz Tüter, Inhaber von Audio Hansa in Bremen. Ihm half ich vor ein paar Jahren, sich den Traum eines eigenen 3D-Drucksystems zu erfüllen. Nun hilft mir der gestandene Hörakustikmeister, sich an der Basis umzuhören, indem er mich mit Jonas Grellmann in Kontakt gebracht hat. Denn der gründete kurz vor Beginn der Pandemie sein erstes Fachgeschäft. »Es ja nicht so, dass ich all die verschiedenen Herausforderungen nicht auch sehe. Viel zu verlieren habe ich dennoch nicht. Letztlich kann es nur gutgehen oder schiefgehen. Und diese Vorgehensweise garantiert mir wenigstens, dass mein Erfolg zumindest in großen Teilen von mir selbst abhängt«, schiebt Grellmann nach, als wir einen Rundgang durch die 100 Quadratmeter großen Räumlichkeiten starten.

Während Tüter sich aufmacht, einen der beiden Anpassräume seines Kollegen näher zu inspizieren, setzt Grellmann am Servicepoint erneut an, um seine Motivation zu verdeutlichen. Klar könne man oberflächlich behaupten, dass er den Schritt in die Selbständigkeit nur gemacht habe, da er Anfang 2019 vor der Situation stand, von heute auf morgen sein Angestelltenverhältnis zu verlieren. Ein Stück weit sei es auch so gewesen. Allerdings sei der Schritt gewiss nicht aus Verzweiflung erfolgt. Einen Job hätte er locker bekommen. Mit der Selbständigkeit jedoch habe er schon immer irgendwie geliebäugelt, nur halt nicht zu diesem Zeitpunkt. »Wenn man frisch Vater geworden ist, dann ist Sicherheit eigentlich das, wonach man strebt. Genau das habe ich definitiv lernen müssen. Sicherheit gibt es nicht, auch nicht im Angestelltenverhältnis«, so Grellmann.

Nachdem wir einen kurzen Blick in seine große offene Werkstatt geworfen haben, verziehen wir uns in die Küche, um in Ruhe sprechen zu können. Dort beginnt Grellmann, den Grundgedanken seines Geschäftes zu erläutern. »Selbstverständlich beschäftigt man sich mit Standorten und nimmt eine Analyse vor. Ein Punkt war mir dabei überaus wichtig. Das Geschäft sollte nicht irgendwo stehen und auch nicht in der Nähe eines HNO-Arztes. Der Nächste ist hier mindestens 14 Kilometer weg. Deswegen Worpswede«, so Grellmann, der selbst zwar nicht in der 9.000- Einwohner-Gemeinde aufgewachsen ist, sie aber von klein auf kennt.

Als er 2019 den Standort nach längerer Suche gefunden hat, war der für ihn »einfach perfekt«. Zweifellos hatte man in diesen ehemaligen Friseurladen deutlich Hand anlegen müssen, um anständige Grundbedingungen für Hörakustik zu schaffen. Tolle Vermieter, Parkplätze vor der Tür, der zur Verfügung stehende Platz im Geschäft wie auch Umfeld und Kundenpotential hätten für einen Start aber nicht besser sein können. »Klar, das muss man wollen. Eine Künstlerkolonie gepaart mit viel landwirtschaftlichem Hauch ist nicht jedermanns Sache. Wenn man aber mit den Leuten kann, dann sind das die treusten Kunden«, lässt Grellmann blicken.

Ohne Vertrauen läuft nichts

Bei der Einrichtung ist es Grellmann daher auch wichtig gewesen, dass sich das Geschäft gut in das Ortsbild einfügt. Zum einen sollte es Qualität, Hochwertigkeit und Fertigkeit vermitteln, zum anderen sollte das Geschäft nicht zu modern, aufdringlich und überzogen wirken. Selbstverständlich würden Kunden bei Hörgeräte Grellmann mal mit einem Hörgeräte-Dummy konfrontiert, eine große Vitrine mit einer Produktauslage oder Produktwerbung sucht man allerdings vergeblich. Lieber hängt Jonas Grellmann Bilder ortsansässiger Künstler an die Wände und investiert den dadurch freiwerdenden Raum in einen größeren Reparaturbereich, damit er dem Kunden beispielsweise demonstrieren kann, wie ein Filterwechsel aussieht. »So schön solche Läden manchmal auch sind, für die Umgebung hier würde ein solches Konzept in dem Rahmen nicht passen. Denn das spiegelt nicht das wider, wie der Kunde hier lebt. Wenn hier beispielsweise ein Schmied oder ein Landwirt hereinkommt, der mit seinen Händen ein Leben lang gearbeitet hat, dem brauche ich nicht zu argumentieren, wie einfach ein Batteriewechsel bei einem so schönen, kleinen, unauffälligen Hörsystem ist. Das geht völlig an seinem Bedarf vorbei. Also muss ich ein anderes Bild vermitteln, und das kann nur bedeuten, dass hier alles auf Hörgeräte Grellmann gemünzt ist«, so der Junginhaber, dem eine Vertrauensebene zum Kunden überaus wichtig ist.

Aus diesem Grund hat der Hörakustikmeister seinen Beratungstisch im Anpassraum so ausgerichtet, dass eine bessere Zusammenarbeit und Kommunikation mit dem Kunden möglich ist. So sitzt man bereits während der Beratung bei Hörgeräte Grellmann leicht schräg versetzt nebeneinander. Der gemeinsame Blick in Richtung Monitor, ohne Face-to-Face-Situation und am Kunden selbst sorge seiner Erfahrung nach für eine andere Vertrauensebene mit dem Kunden. »Es ist doch eine Frage des gegenseitigen Umgangs. Auf der einen Seite wünschen sich alle Professionalität, auf der anderen Seite will man doch respektvoll behandelt werden. Und dazu gehört, dass sich der Kunde nicht fragen darf, was ich da hinter dem Bildschirm alles mache oder ob ich mich da verstecke.«

Vertrauen allerdings schaffe man nur, wenn dies beide Seiten lebten. Deswegen könne es schon sein, dass auch mal seine Kinder durch den Laden sausten. Man könne nicht erwarten, dass Kunden sich einem gegenüber öffnen, wenn man selbst das nicht tue. Gerade in Worpswede, wo jeder jeden kenne, sei das extrem wichtig. Das bedeute aber nicht, dass jede Kundenbeziehung automatisch in einer Freundschaft münde. Das Grundproblem in der Beratung hingegen bliebe jedoch immer gleich. »Ob in Bremen oder in Worpswede, Kunden können nur in den seltensten Fällen selbst ausformulieren, was sie brauchen und was sie sich wünschen. Um aber den Kundenwunsch haargenau herausfinden zu können, muss ich auch die Schmerzpunkte meiner Kunden kennen. Je kleiner allerdings ein Ort ist, desto schwieriger wird es, das zu erreichen, da Anonymität hier keine Rolle spielt«, so Grellmann. Fehler beispielsweise, die man nie komplett vermeiden könne, sprächen sich daher viel schneller herum als in der Stadt. Entsprechend müsse man sich immer wieder vor Augen halten, dass die Maßgabe auf dem Land an einen Beruf eine andere ist. Einen Job dort habe man »einfach gut zu machen«. Und das heißt: Konzentration aufs Wesentliche.

Ohne Person kein Produkt

Diese unterschiedliche Art mit dem Kunden zu kommunizieren, habe Grellmann zufolge ebenso Konsequenzen für das Marketing. Da die Person hinter dem Produkt oftmals mehr zähle als das Produkt selbst, habe er lernen müssen, völlig auf klassische Produktwerbung zu verzichten. »Meine Wahrnehmung und meine Erfahrung zeigen mir immer wieder, dass die Produkte selbst nicht ausschlaggebend sind. Das gilt sowohl für den ersten Kontakt mit dem Kunden als auch für das Marketing. Denn auf Produktwerbung habe ich noch nie eine Resonanz bekommen. Doch immer, wenn wir uns als Team präsentieren, egal ob in Zeitungen oder auf Social-Media, erhält man meist Feedback«, so Grellmann. Insofern seien die Gewerbeschau und die Feuerwehrmesse im Grunde genommen viel wichtiger, damit man Kontakte pflegen und aufbauen kann. In einem Umfeld, das kaum Anonymität biete, seien das die entscheidenden Situationen, um einen ersten Kontakt zu schaffen. »Ich habe es neulich wieder bei einem Vortrag erlebt. Unabhängig davon, dass die Leute mehr wissen wollen, um ein Gefühl von dir und deinem Geschäft zu bekommen, gibt es auch Kunden, die die Anonymität der Masse brauchen, um einen ersten Kontakt zu schaffen. Das sind meist diejenigen, die sich nicht allein über die Türschwelle trauen. Es wird ja immer gesagt, dass die ersten Minuten für den Kunden entscheidend sind. Das stimmt, sie entscheiden aber nicht über das Produkt, sondern über den weiteren Kommunikationsverlauf«, sagt Grellmann.

Das bedeute allerdings nicht, dass man gänzlich auf Marketing verzichten könne. Wenn man es auf das reduziere, was es sei, nämlich ein Kommunikationsinstrument, dann gelinge es gar, die Kundenbeziehung zu verfestigen. Folglich seien Online- und Offline-Marketing überhaupt gar keine Gegensätze zu der Art, wie er an den Kunden herantritt. Im Gegenteil: Man könne beides wunderbar miteinander verbinden. »Ein Ziel ist es ja mitunter, beim Kunden dauerhaft ein Bewusstsein zu schaffen, und mich hat schon immer gestört, dass wir an meiner alten Arbeitsstätte so viele Leistungen kostenfrei und als selbstverständlich erachtet haben. Das erzeugt einen falschen Eindruck. Denn wie soll der Kunde unterscheiden, wann meine Leistungen zum Tragen kommen? Dadurch aber, dass wir unseren Kunden persönlich, aber auch über Videos Anleitungen an die Hand geben, wir stets zur Seite stehen und unsere Kunden bereit sind, für einen Extraservice eine kleines Entgelt zu entrichten, schaffe ich diese Unterscheidung und erzeuge Bewusstsein und Wertigkeit. Zudem zeigt man, weshalb man ein und die gleiche Leistung auch auf unterschiedliche Weise erbringen kann. Schließlich schätze ich einen Service in einer Fastfood-Kette doch auch anders ein als den in einem Sterne-Restaurant«, zeigt sich Grellmann selbstbewusst.

Nur das Gesamtergebnis zählt

Dabei gelte es, niemals den Fokus zu verlieren. Egal, welcher Zwischenschritte man sich bediene – am Ende zähle das Gesamtergebnis. Und zwar für beide Seiten. Wie hochwertig der Kunde seine Versorgung wählt, bleibe zu 100 Prozent dem Kunden überlassen. Ziel seiner Beratung sei daher, den Kunden im Hinblick auf die Bedürfnisse keinesfalls unterversorgt aus dem Geschäft zu lassen, sondern die Bedürfnisse haargenau zu ermitteln. Auch wenn das bedeute, dass man hin und wieder Abstriche in der Leistungsstufe hinnehmen müsse, zahle sich hier die zuvor geschaffene Vertrauensebene immer aus. »Meist sind wir die Ersten, die überhaupt einmal eine Hörmessung vornehmen. Und dennoch gelingt es uns regelmäßig, unsere Kunden nach dem dritten, maximal vierten Termin in die Freiheit zu entlassen. Klar, gibt es auch Ausnahmen; der Regelfall zeigt mir aber, dass das nur geht, wenn die Vertrauensebene stimmt und man seine Basics beherrscht. Ob ich nun Natural Fitting anwende oder zu einer anständigen und passenden Otoplastik rate, meine Kunden gehen mit mir, unter anderem auch, weil ich ihnen alles transparent zeige und vermittele«, freut sich Grellmann.

Dass er heute so locker und unbeschwert darüber sprechen kann, hätte er vor knapp vier Jahren selbst nicht gedacht. Damals habe er wirklich nicht gewusst, wohin ihn die Reise eines Tages mal führen würde. Denn Grellmann habe kein halbes Jahr nach Eröffnung bereits seine erste Mitarbeiterin Noomi Linde in Kurzarbeit schicken müssen. »Die Corona-Zeit war schon echt eine große Herausforderung. Das Unbehagen war so groß, dass ich in den ersten Wochen nichts anderes gemacht habe, als mir jeden Tag stundenlang irgendwelche Corona News anzugucken, in der Hoffnung, das Geschäft nicht vollständig schließen zu müssen. Dabei war ich so froh, dass ich Noomi gefunden hatte, und sie mich von Anfang an mit im Geschäft begleitete. Ich war damals sogar schon dabei, den zweiten Anpassraum vorzubereiten«, erinnert sich Grellmann, der diesen Zeitraum als Angstphase bezeichnet.

Nichtsdestotrotz habe der Hörakustikmeister auch in der Situation alles Mögliche unternommen. Er verwies in Anzeigen auf Abstand- und Hygieneregeln, baute einen Online-Shop, in dem etwa Pflegemittel oder Batterien bestellbar sind, und bot neben Hausbesuchen auch einen Hol- und Bringservice an. Am Ende habe sich gezeigt, dass die meisten Kunden von all seinen Bemühungen überhaupt nichts mitbekommen hatten, obwohl Worpswede ein kleiner Ort ist. »Während der Corona-Zeit war jeder mit sich selbst beschäftigt. Dennoch waren all die Anstrengungen damals richtig. Unabhängig davon, dass Stillstand Rückschritt bedeutet, signalisiert man ja mit seinem Verhalten auch etwas. Umso glücklicher bin ich aber, dass meine Kunden im Laufe der Zeit alle zurückgekehrt sind. Die Arbeit hat mittlerweile so stark zugenommen, dass wir demnächst sogar zu viert im Team sind«, sagt Jonas Grellmann noch, bevor es an der Küchentür klopft. Deniz Tüter kommt herein und zeigt mit dem Finger auf die Uhr. »Na, ihr seid schon zwei Stunden hier drin. Ist Jan-Fabio immer noch nicht mit seinem Lieblingsthema Otoplastik durch? Wenn nicht, beeilt euch und macht hin. Ich bekomme langsam Hunger!«

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